+ + Richter schlägt wegen giftiger Kabinenluft Alarm + +

Ein neuer Untersuchungsbericht aus Großbritannien stellt Nervengifte in der Kabinenluft von Flugzeugen fest. Ein Untersuchungsrichter befürchtet weitere Todesfälle – und fordert schnelle Maßnahmen.

Zwei Seiten hatte die Mitteilung, die in dieser Woche auf den Schreibtischen der Chefs von British Airways und der britischen Luftaufsichtsbehörde CAA landete. Doch das amtliche Papier könnte vieles verändern. In knappen und nüchternen Worten legt der Untersuchungsrichter und Leichenbeschauer Ihrer Majestät der Queen die Feststellungen von Sheriff Stanhope Payne aus der Provinz Dorset im Süden Englands dar – und fordert zum schnellen Handeln auf.

Payne ermittelt seit 2012 akribisch die genauen Todesumstände des ehemaligen British-Airways-Piloten Richard Westgate. Der amtliche Leichenbeschauer mit der Bezeichnung Coroner, der nach britischem Recht im Range eines Untersuchungsrichters steht, ist besorgt über Erkenntnisse der Ermittlungen.

Ganz unabhängig von den noch festzulegenden Todesursachen des Ende 2012 verstorbenen British-Airways-Piloten Westgate besteht seiner Meinung nach die Gefahr, dass es zu Todesfällen im Zusammenhang mit vergifteter Kabinenluft kommen kann, wenn nichts unternommen wird.

Diese tödliche Gefahr bestünde gleichermaßen für Passagiere und Besatzungsmitglieder. Nach dem englischen Gesetz ist ein Coroner in solchen Fällen verpflichtet, gegenüber den Verantwortlichen eine amtliche Meldung zu machen und Abhilfe einzufordern.

Streit geht seit Jahrzehnten
Der Bericht könnte eine Wende in einem lang anhaltenden Streit bringen. Seit 20 Jahren behaupten Flugzeughersteller, Fluggesellschaften und Luftfahrtlobbyisten, dass die Atemluft an Bord völlig ungefährlich für die Insassen sei. Doch immer größer wird die Zahl von Betroffenen, meistens Flugbegleiter, Piloten und Vielflieger, die die Ursachen für ihre Erkrankungen und Symptome an ihrem Nervensystem auf giftige Öldämpfe aus den Triebwerken zurückführen.

Bis heute gelangt die Atemluft in fast allen Flugzeugtypen – einzige Ausnahme bildet bisher die Boeing 787 – ungefiltert aus dem Triebwerk in die Kabine. Konstruktionsbedingt werden so aber auch geringe Mengen hocherhitzter Bestandteile von giftigen und gesundheitsschädlichen Chemikalien aus den Schmierstoffen in die Kabine geleitet und dort von den Insassen eingeatmet.

Je nach genetischer Veranlagung kann das schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben, warnen Wissenschaftler und Mediziner.

Fünf Feststellungen sind damit amtlich
Sheriff Payne führt in seinem Schreiben vom 16. Februar fünf Punkte auf:
1. In der Kabinenluft befinden sich Organo-Phosphate, eine als Nervengift bekannte Gruppe von Chemikalien, die als Flammschutz und Weichmacher in Triebwerksölen verwendet werden.

2. Insassen von Flugzeugen werden diesen Chemikalien ausgesetzt, was zu Gesundheitsschäden führen kann.

3. Die gesundheitlichen Auswirkungen dieser Stoffe auf Piloten können – zum Beispiel bei einem Unfall – zum Tod der Insassen führen.

4. Bislang gibt es in Flugzeugen keine eingebauten Sensoren, die solche Giftstoffe in der Kabinenluft messen und davor warnen könnten.

5. Die genetischen Unterschiede hinsichtlich der Toleranz oder Intoleranz gegenüber der Exposition mit solchen Giftstoffen wurden bisher nicht ausreichend gewürdigt.

Ab jetzt wird alles öffentlich
Sowohl British Airways als auch die zuständige englische Luftaufsichtsbehörde wurden unter Fristsetzung bis zum 13. April aufgefordert, nun zu erklären, was sie wie und wann dagegen zu unternehmen gedenken. Aufgrund von Besonderheiten im britischen Recht ist das gesamte Verfahren von nun ab öffentlich.

Ganz unabhängig von diesen Feststellungen wird es jetzt auch zu einer öffentlichen Verhandlung über die Feststellung der Todesursache des verstorbenen Piloten Westgate kommen. British Airways und die britische Luftaufsichtsbehörde wurden von Sheriff Payne mit gleicher Post in diesem Verfahren als Parteien benannt und aufgefordert mitzuteilen, wer sie bei dieser Gerichtsverhandlung vertreten wird.

Damit stehen erstmalig neben der renommierten Fluggesellschaft auch die Verantwortlichen der für eine Airline zuständigen Aufsichtsbehörde in Sachen „Kabinenluft“ vor Gericht.

Pilot überließ seinen Körper der Wissenschaft
British Airways wollte sich zu dem Schreiben des Coroners konkret nicht äußern. Per E-Mail teilte das Unternehmen der „Welt“ dazu mit: „Die Sicherheit unserer Kunden und Besatzungen hat für British Airways größte Bedeutung und wird niemals aufs Spiel gesetzt werden.“

Der Airbus-Pilot Westgate wurde aus medizinischen Gründen 2011 flugdienstuntauglich. Er litt an einer Vielzahl von Symptomen, die, wie er vermutete, auf giftige Dämpfe in der Cockpitluft zurückzuführen seien.

Da man ihm in Großbritannien nicht helfen konnte, begab er sich im Frühjahr 2012 nach Holland in die medizinisch-therapeutische Behandlung eines Spezialisten. Am 12. Dezember 2012 wurde der 43-jährige Westgate dann tot in seinem Hotelzimmer gefunden.

Vor seinem Tod hatte Westgate seinen Körper der Wissenschaft vermacht, um das „aerotoxische Syndrom“ zu erforschen. So werden bereits seit 1999 von Toxikologen und Wissenschaftlern die unterschiedlichen Symptome bezeichnet, die besonders häufig unter Piloten und Stewardessen aufgetreten sind.

Wissenschaftler hatten schon Schädigungen festgestellt
Die forensisch-pathologischen Analysen an Gewebeproben aus dem Gehirn, dem Rückenmark und Nerven des Verstorbenen wurden von einem internationalen Team von Wissenschaftlern durchgeführt.

Bereits im Sommer vergangenen Jahres haben die beteiligten Wissenschaftler erste Teilergebnisse in einer Studie publiziert. Danach litt Westgate an Symptomen, die vergleichbar sind mit einer gleichzeitigen Erkrankung durch eine Herzmuskelentzündung, Leukämie, multiple Sklerose und zusätzlich einer Arsen- und Insektizidvergiftung.

Westgates Anwalt und Testamentsvollstrecker, der schottische Luftfahrt-Anwalt Frank Cannon aus Glasgow, begrüßt die deutlichen Worte von Sheriff Payne. „Es ist das erste Mal, dass ein unabhängiger Richter eine klare Stellung zu diesem Problem bezogen hat, nachdem er die Ergebnisse einer über zwei Jahre dauernden Untersuchung bewertet hat. Das ist ein wesentlicher Meilenstein, besonders auch für die vielen anderen Betroffenen, denen bisher vorgehalten wurde, ihre Krankheit und die Symptome seien nur eine Einbildung“, sagte Cannon der „Welt“.

„Damit ist es amtlich, dass Insassen von Verkehrsflugzeugen solchen Nervengiften ausgesetzt werden. Ein Umstand, den die Luftfahrtindustrie und ihre Lobbygruppen bisher stets vehement abgestritten haben. Jetzt müssen sie handeln.“

Reaktionen auch in Deutschland
Auch in Deutschland hat der Bericht des britischen Coroners Reaktionen ausgelöst. Die Pilotenvereinigung Cockpit teilt die Besorgnis aus England. Ihr Sprecher Jörg Handwerg erklärte: „Unsere Befürchtungen bestätigen sich mit dieser Einschätzung.“

Die Hersteller müssten jetzt endlich reagieren. Seit sechs Jahren hat Cockpit vergeblich Maßnahmen eingefordert, darunter auch die Nachrüstung von Filtern und Sensoren und eine Abkehr vom bisherigen Luftversorgungssystem in Flugzeugen, die solche Vergiftungen überhaupt erst möglich machen würden. Stattdessen, so die Pilotenvereinigung, leugneten die großen Hersteller Boeing und Airbus immer noch, dass es ein überhaupt irgendein Problem gebe.
Im Deutschen Bundestag setzt sich besonders der saarländische Abgeordnete Markus Tressel (Bündnis 90/die Grünen) für dieses Thema ein. Erst vor zwei Wochen hatte eine von seiner Fraktion gestellte Anfrage bei der Bundesregierung eröffnet, dass die Zahl der erfassten Vorfälle auf deutschen Flugzeugen in den letzten Jahren besorgniserregend angestiegen ist.

Zum Handeln aufgefordert
Genau wie der britische Coroner in England fordert Tressel die Verantwortlichen in Deutschland zum Handeln auf: „Wer hier jetzt weiter rumlaviert, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Der Coroner-Bericht lässt an Klarheit nichts vermissen. Auch die deutschen Behörden müssen jetzt ihre passive Abwartehaltung ablegen. Bundesverkehrsminister Dobrindt sollte sich schleunigst mit seinem EU-Kollegen im Ministerrat mit dem Thema Kabinenluft befassen.“

Bereits im Herbst 2011 hatten Tressel und seine Fraktion die Bundesregierung und die EU vergeblich aufgefordert, den Druck auf die Industrie zu erhöhen und zumindest Filter und Sensoren auf Flugzeugen gesetzlich vorzuschreiben sowie die Auswirkungen von kontaminierter Kabinenluft auf den Menschen zu untersuchen. Im Herbst 2012 wurde aber auch ein ähnlich lautender Antrag der SPD-Fraktion durch die Mehrheit der damaligen Regierungskoalition abgelehnt.

Quelle: http://www.welt.de/wirtschaft/article137693077/Richter-schlaegt-wegen-giftiger-Kabinenluft-Alarm.html

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